»Ich habe eine Vision...«

Helga Sophia Goetze

Berlin, Schlüterstraße

In diesen grünen Hinterhof schaute Helga Goetze aus dem 2. Stock hinab, saß sie an ihrem Schreibtisch.

An ihrem Schreibtisch saß sie täglich, schrieb auf ihrer mechanischen Schreibmaschine ihr Tagebuch, Gedichte, und ihre Zusammenfassungen der Bücher, die sie gerade las.

Was sie schrieb, kopierte sie regelmäßig und schickte es per Rundbrief an ihren großen Freundeskreis.

Zu Besuch bei Helga Sophia Goetze

Kam ich Helga besuchen, so wusste ich: Will ich etwas trinken oder etwas essen, so muss ich selbst dafür Sorge tragen. Um mein leibliches Wohl würde Helga sich nicht kümmern. Was sie mir bot, war geistige Nahrung. Kurz fragte sie, wie es mir geht, wie den Kindern etc. Schon holte sie eines ihrer neuen Gedichte hervor und rezitierte es gekonnt. "Ist das nicht doll?", fragte sie mich, kaum war sie fertig. "Ich weiß auch nicht, wie mir so was immer wieder einfällt!"

Nach einigen Gedichten folgte die Aufforderung: "Hol doch mal die Kiste mit meinen Lappen!", und meinte damit ihre fabelhaften Stickbilder. Nun ließ sie mich ein Bild nach dem anderen ausbreiten und begann zu erzählen. In Null komma Nichts vermittelte sie mir ihre Gedanken und Ideen, vor mir auf dem Boden lagen die Stickbilder. Auch befragte sie mich, "weißt du, woher das Wort Ficken kommt?" oder anderes. Und freute sich diebisch, es mir erklären zu können. Immer suchte sie nach dem Ursprung im ethymologischen Wörterbuch.

Zwei Stunden dauerte so ein Besuch in der Regel. Dann war sie müde, wollte wieder ihre Ruhe. Um zu schreiben, zu sticken, Radio zu hören. Aus ihrem Fenster guckte sie mir nach, wie ich den Hof überquerte. Ich schaute noch einmal hoch zu ihrem Fenster, winkte ihr zu. Und stand ich auf der Straße, so tauchte ich auf aus dieser geistig anregenden Welt der Helga Goetze. Ich habe bei diesen Besuchen so vieles gelernt, so viele Erkenntnisse gewonnen. MG



 

HELGA SOPHIA GOETZE
PRIMAERE TABUBRECHERIN

von Karin Pott

Die berühmt-berüchtigte Helga Sophia Goetze hat seit Beginn der achtziger Jahre ein gewaltiges, faszinierendes Universum von gestickten Bildern geschaffen. Allein für die Stickereien, die sie mit feinem Stickgarn auf einfachem Nessel anfertigte, gebührt ihr ein Platz in der Kunstgeschichte, wie ihn Künstler wie Jean Dubuffet, Adolf Woelfi oder Louis Soutter einnehmen.
Bekannt war Helga Sophia Goetze eher für ihre „Mahnwache“ an der Gedächtniskirche in Berlin. Dort stand sie über 20 Jahre täglich eine Stunde, um ihre Botschaft zu verkünden: „Ficken macht friedlich!- Ficken ist Frieden!“.

Sie wollte die Gesellschaft verändern, wollte wissen ,,wie alles zusammenhaengt“. Ausdruck ihres Wissens- und Erkenntnisdrangs sind ihre über 3.000 Gedichte, die sie in den letzten 35 Jahren geschrieben hat, genauso wie ihre mehr als 300 Bilder, die ihre Botschaften und Anschauungen in gestickten Bildtafeln versinnbildlichen.
Helga Sophia Goetze wird 1922 in Magdeburg geboren und wächst in gutbürgerlichen Verhältnissen auf. Mit 20 Jahren, 1942, heiratet sie einen 12 Jahre älteren Mann. Von Magdeburg ziehen sie 1949 nach Hamburg, wo der Ehemann 1950 eine Anstellung bei der Deutschen Bank annimmt. Sie haben gemeinsam sieben Kinder – fünf Maedchen und zwei Jungen. Die Ehe funktioniert so lange, bis sie mit Erlaubnis ihres Ehemannes in Sizilien eine Nacht mit einem Mann, Giovanni, verbringt. Danach bricht sie aus ihrem wohlbehütetem Hausfrauendasein aus: Sie zieht sich im Fernsehen nackend aus, sie ist der Skandal des Jahres, der Ehemann reicht die Scheidung ein, sie geht los, lebt erst in Hamburg, gründet eine WG mit freier Sexualitaet, und kommt auf Umwegen 1978 nach Berlin, Kreuzberg.

Von 1982 bis zu ihrem Tod am 29. Januar 2008 wohnte sie in Charlottenburg, in der Schlüterstrasse 70, Gartenhaus. Am Haus hatte sie mit Zustimmung des Hausbesitzers eine Messingtafel anbringen dürfen: Helga Sophia Goetze, Geni(t)ale Universität, Lehre und Forschung, tägl. geöffnet von 17 bis 19 Uhr.
Helga Sophia Goetze war zeit ihres Lebens eine Person der Öffentlichkeit. Trotz ihres enormen künstlerischen OEuvres – Stickereien, Zeichnungen, Gedichte, Aufzeichnungen - wurde ihrem künstlerischen Werk bis zum vergangenen Jahr wenig Beachtung geschenkt.

Ihre letzte Ausstellung „Was ist eine Frau? – Weg eines Aufbruchs“, die vom 22. Juni bis 27. August 2006 in der Studiogalerie des Haus am Lützowplatz gezeigt wurde, rückte die Kuenstlerin mehr in den Vordergrund. Dort waren etwa 20 Stickereien und Gedichte ausgestellt.
Im Jahr 2007 hat das Art Brut Museum in Lausanne fünf großformatige Stickereien angekauft und in ihre Sammlung integriert.

Karin Pott, Oktober 2008