»Ich habe eine Vision...«

Helga Sophia Goetze

Gedichte

Helga füllte viele dicke Ordner mit ihren Gedichten.

 

Veröffentlicht wurden ihre Gedichte in folgenden Publikationen:

Zeugnisse eines Aufbruchs. Gedichte aus den Jahren 1970 bis 1973, Norderstedt : Books on Demand 2005. (ISBN 3-8334-2611-X )

Kunstwerke der Liebe, hg. von Hartmut Goetze, Berlin: epubli 2014. (ISBN 3-8442-8009-8)

• in: RehZepter gegen die Impotenz, hg. von C.C.Parise, Aachen: K. Fischer, 1997. (ISBN 3-89514-088-0)

Gedichte, Ausgabe des Literarischen Clubs Lichterfelde, Berlin: Eigenverlag 1983. (antiquarisch)

Hausfrau der Nation oder Deutschlands Supersau? Zeugnisse eines Ausbruchs, München : Rohr 1973. (vergriffen, in Bibliotheken in Berlin, Hamburg und München vorhanden, antiquarisch)

Weitere Gedichte finden sich im Nachlass.

 

Der Nützling - 24.1.1974

 

Als Beispiel für Helgas Arbeiten dient das Gedicht "Der Nützling" aus dem Jahre 1974. Helga verarbeitete hierbei folgende Erlebnisse:

 

I. Eigene Erlebnisse
a) mit ihrem kleinen Bruder
b) mit ihren eigenen Kindern

II. Eine Bekannte erzählte ihr von einem Erlebnis ihres Mannes: Er war in der Schule aufgerufen worden und hatte einen Steifen. Und wusste sich nun nicht zu verhalten.

III. Ihr Rechtsanwalt erzählte ihr einmal die Geschichte seiner Jugend. Später erlebte sie einmal seine Mutter persönlich, die dauernd laut rief:" Liebe ist nehmen und geben - nehmen und geben!"

Daraus entstand das folgende Gedicht: 


Der Nützling

Kleiner Nützling, ei wie praktisch,
pinkeln kann er und noch mehr
lustvoll ziehen, strecken, dehnen,
nützlich ist der Kleine sehr.

 

Schon das Bübchen mit zwei Jahren
läuft zu seiner Frau Mama:
"Mami", ruft der Kleine strahlend.
"sieh mein Nützling, der ist da".

 

Doch die Mama selbst so prüde,
schreit das Kind an: Laß den doch.
Der ist nur zum Pinkeln nützlich
mit dem kleinen Pinkelloch.

Leute wollen das nicht sehen,
jeder steckt das Stäbchen weg,
denn so pissen ist doch wirklich
furchtbar schlechter Jauchedreck.

Und das Büblein ist erschrocken,
schnell das Ding in seine Hos'.
Weg ist der für alle Zeiten,
zuerst klein, dann riesengroß.

Unser Knab' ist 13 Jahre
und der Lehrer fährt ihn an.
Büblein kann vor Schreck nicht denken.
denn das Ding stößt unten dran.

Ist er 17, schaut die Mama
ärgerlich sein Bettuch an:
"Was soll denn der Fleck im Bette,
faßt du etwa unten dran?"

Unser Büblein fängt zu weinen,
Zittern er nicht halten kann,
doch die Mami, seine Gute,
bringt ihm Tee in großer Kann'.

Du sollst schlafen, lieber Kleiner,
dieser Tee ist für die Ruh'
und halt klüglich Hände oben,
dann bleibt auch dein Löchlein zu.

Sieh', der Samen in dem Nützling,
ist nur da zum Kinder zeugen,
denn du mußt dich diesem Schwanze
nicht in seine Herrschaft beugen.

Du bist Herr in deinem Hause,
denken ist von Wichtigkeit,
und der Nützling in der Hose,
der ist eine Nichtigkeit.

Hin und wieder, wenn die Spannung
wirklich mal wird riesengroß,
dann nimmst Du ihn nebensächlich
wohl schon mal aus deiner Hos'.

Schließlich wird die Samenfülle
mal zu mächtig, die muß weg,
und es ist der dicke Nützling
nur ein Rohr für seinen Zweck".


 24.01.1974

 

Hier eine kleine Auswahl von Helgas Gedichten:

WEIHNACHTLICH SEIN -
geschrieben am 14.12.1973
Ein Hauch von Gedanken -
IDEEN SÄEN.
Die Hand dort leise an meiner Brust
weckt die IDEE mir
von Freude und Lust -
IDEEN SÄEN

Das Feld der vergangenen
Gedanken räumen,
von kommenden Gärten
zuerst ganz tief träumen -
IDEEN SÄEN.

Das neue Land
noch liegt es im Dämmern
so unerkannt.
IDEEN wir säen.

Du und ich, die wir so tief denken
und wissen, das Neue,
das lässt sich nicht schenken -
IDEEN SÄEN.

Wie muss man graben,
wie muss man werken,
wie mühsam geschieht
neues Lernen und Merken -
IDEEN SÄEN.

Was ich und du wollen,
was ich und du können,
wir wollen es flüstern,
wir wollen es benennen -
IDEEN SÄEN.

Träumen und flüstern
und sprechen und schreien,
wir wollen uns selbst
von dem Toten befreien -
IDEEN SÄEN.

Die Puppe dahinten,
die schreit nur "JAWOHL!"
und ihre Gedanken
sind farblos und hohl.
IDEEN SÄEN.

Neue Gewächse von farbigem Schein
WEIHNACHT KEHRT EIN.

Das Neue, das wartet,
noch liegen wir stumm
und die Gedanken,
die wandern im Kopfe herum.
Gedanken wie Samen von neuem Tun.
Und einmal haben wir genug vom Ruhm.

Wir zusammen - ICH UND DU,
hören einander ergriffen zu.
WIR SÄEN IDEEN.

Und Tat lässt sie sehen.
Weitsicht und Kraft
Wirklichkeit schafft
und MENSCHSEIN KEHRT EIN -
      WEIHNACHTLICH SEIN.

Für Helga war die Weihnachtszeit eine ganz besondere Zeit. Eine Zeit der Besinnung, eine Zeit, die neue Kräfte sprießen ließ. Sie schmückte sich ihren Raum - selbst im Alter, als sie allein wohnte - festlich und weihnachtlich. Jahr für Jahr.
Dies Gedicht nahm die Künstlerin Ana von Keitz, die Helgas Grabstein töpferte, als Inspiration. Und setzte einen Vers daraus "Wie muss man graben..." darauf. MG

 
Der Alte ist ein Spinner

"Der Alte ist ein Spinner!"
sagt ein Sohn zu einem Mann.
"Er ist ein Schreibtischheini,
seht ihn euch doch nur an!"
 
Der Vater schreit und schnauft,
die Sätze trafen tief.
Sie sitzen im Gehirn,
sein Image liegt jetzt schief.
 
"Wie kommt ein kleiner Schnösel,
wie der eigene blöde Sohn,
mit dem Vater so zu sprechen -
ich verbitte mir den Ton!"
 
Und doch, die beiden Sätze,
die füllen sein Gehirn,
er kann kaum andres denken
mit seiner Denkerstirn.
 
Zwei Autos, Haus und Hund und Weib,
zwei Söhne so zum Zeitvertreib,
Ingenieur und manche tausend Mark,
dazu fast einen Herzinfakrt.
Und dieser Sohn, der frech und dumm
und läuft mit langen Haaren rum,
geht über seinen Rasen quer
und hört nicht hin und hört nicht her.
Der Vater tritt ihn in den Steiß,
das ist des Vaters Machtbeweis.
Doch dieser Sohn dreht sich nur stumm,
zeigt ihm einen Vogel blöd und dumm
und sagt, wie ihr da oben hört,
nur die zwei Sätze - wie das stört.
Zwei Sätze nur, die schluckt der rein
und muss fortan ein andrer sein.
Sitzt nicht mehr oben riesengroß,
zwei Sätze gaben ihm den Stoß,
dass er so purzelt von der Höh,
tat seinem Ich so mächtig weh.
 
Vielleicht denkt er ein wenig nach,
denn eigenes Denken lag stets brach.
Er dachte nur aus zweiter Hand,
bis dass sein Sohn zwei Sätze fand.
Die trafen ihn so hart und tief,
jetzt liegt sein ganzes Wissen schief.
 
Ach, Väter, ihr, in weiter Welt,
es war mit allem gut bestellt,
wir hörten hier und hörten dort,
wir hörten mal ein eigenes Wort
und nicht Programme, kaputt und leer,
dann sähen wir den Bruder mehr,
den Bruder auch in Weib und Kind,
wir alle dann nicht einsam sind.
 
Wir lachen, was der Sohn uns sagt,
und haben ihn gleich hinterfragt.
Mal hab ich Recht und mal auch er,
das geht so herzlich hin und her.
Wir lachen dann und sind befreit
und finden neue Menschlichkeit.

           helga goetze
 
Das Gedicht "Der Alte ist ein Spinner" schrieb Helga Goetze schon in den 1970er Jahren.
Helga hatte leidvolle Erfahrungen mit der Erziehung ihres Vaters gemacht. Und sie hatte selbst 7 Kinder, darunter 2 Söhne. Und war felsenfest überzeugt: Ich habe meine Kinder kaputt gemacht. Davon ließ sie sich durch nichts abbringen. Ihre Kinder stehen durchaus erfolgreich im Leben, sind glücklich und zufrieden wie andere auch. Doch Helga Goetze - sensibler als andere - hatte die Gefühle ihrer Kinder nicht wahrgenommen. Das jedoch wurde ihr erst - als alle erwachsen waren - bewusst. MG