Helga Sophia Goetze
Helga als Romanfigur
Als Person des öffentlichen Lebens taucht Helga sogar in literarischen Werken auf. Uns bekannt sind:
• Raimund Samson: Das Paradies auf der Bratpfanne. Von Einem der auszog sein Selbst zu finden, Hamburg: Anares 2003.
Dieser Bericht über Erlebnisse mit der Otto-Mühl-Kommune porträtiert Helga zu ihren Hamburger WG-Zeiten.
• Herbert Beckmann: Atlantis Westberlin. Erinnerungsreise in eine versunkene Stadt, Berlin: Links 2000.
In diesem Roman hält Helga vor der TU Berlin Mahnwache.
• Yadé Kara: Selam Berlin, Zürich: Diogenes 2003.
Hier findet die Mahnwache schon vor der Gedächtniskirche statt.
Helga Goetze an der Gedächtniskirche, Berlin 1989
Täglich von 14 - 15 Uhr stand Helga an Berlins Gedächtniskirche und hielt ihre "Mahnwache" ab. "Ficken ist Frieden" - damit provozierte sie die vorübergehenden Menschen. Und kam mit vielen ins Gespräch. In dem Buch "Selam Berlin" von Yadé Kara wurde ihr ein literarisches Denkmal gesetzt. Helga Goetze erfuhr davon im Pflegeheim, in dem sie nach einem Schlaganfall ihre letzten Monate lebte. Und freute sich sehr.
In "Selam Berlin" zieht der 19-jährige Hasan, ein Türke mit guten Deutschkenntnissen, durch das Berlin des Jahres 1989. Gerade ist die Mauer gefallen und Hasan, auf der Suche nach sich selbst, zeigt uns "sein Berlin".
Auszug aus dem Buch Selam Berlin
"Jiinglee Beelz, jinglee Beeellz, jiingleee...", erklang es auf den Stufen der Gedächtnis-Kirche. Ich schaute genauer hin. Der Italosänger im Trenchcoat, neben ihm Oma Frieda. Ich kannte sie von früher. Sie war eine kleine zierliche Omi mit einem großen Anliegen. Sie stand leicht gebückt im kalten Wind und hielt wacker ihre Fahne. Sie war wie ein Magnet. Neugierig blickten die Leute und lasen ihre Botschaft. Sie hatte es in großen Buchstaben auf weißen Stoff gestickt. "Ficken ist Frieden". Auf kleinen Handzetteln hatte sie klare Forderungen. Ganz konkrete Sachen. "Klöster mit Ficken. Tempelprostitution. Monogamie bringt Abhängigkeit, die blockiert."
Ich stellte mir Oma Frieda im Grand Bazaar von Istanbul vor. In diesem alten osmanischen Basar, wie aus Tausendundeiner Nacht, mit unzähligen Ständen und dicken Händlern. Und mit dieser Botschaft auf der Fahne. Eins war sicher: Der Handel würde zusammenbrechen. Bestimmt. Alle dicken schnurrbärtigen Händler würden tagelang bei Tee, Tavla und Wasserpfeife "Ficken ist Frieden" besprechen, diskutieren, debattieren und am Ende streiten, sich schlagen, zerfetzen... Bestimmt.
Es begann zu regnen. Eisregen. Oma Frieda setzte sich eine Haube auf, so wie die Oma von Rotkäppchen. Ihre Fahne hing schlabberig im Regen. Das Wort Ficken war eingeknickt. Der Italosänger winkte mir kurz zu. Ich hob meinen Becher Glühwein zum Wohl. Die Oma lächelte mich an, und ich lächelte zurück. Wollte sie was von mir?
Mauer, Dschungel, Helga Goetze ...
Aus einer Rezension von Jens Bisky (Süddeutsche Zeitung)
Es war an der Zeit, einmal wieder an Helga Goetze zu erinnern, jene wackere Künstlerin, die kaum einen Tag ausließ, Passanten zur Paarung oder wenigstens zur Onanie aufzufordern. Meist stand sie im Umkreis der Gedächtniskirche, ab und an auch vor der Mensa der Technischen Universität Berlin. Ihre Botschaft blieb all die Jahre die gleiche: "Ficken ist Frieden!"
Den Ostdeutschen, die im November und Dezember 1989 die ihnen bis dahin verbotene Stadt erkundeten, fiel Helga Goetze auf. Sie schien für sie eine kauzigere, unbekümmerte, rebellischere Lebensart zu stehen. "Die ist immer da", "die hat mal mit Rosa von Praunheim zu tun gehabt", bemerkten die coolen West-Berliner, und wer, aus dem Ostteil der Stadt kommend nicht als Provinzler, nicht als "Wessi" gelten wollte, lernte rasch, an der Oma, Jahrgang 1922, desinteressiert vorüberzugehen. Sie starb im Januar 2008.
Nun hat Helga Goetze als §die verrückte Oma, einen Kurzauftritt in den Erinnerungen der Journalistin Ulrike Sterblich an ihre Kindheit in West-Berlin: "Sie hatte kurze graue Haare, war zweckmäßig und wetterfest gekleidet, trug eine praktische Tasche bei sich und saß oder stand auf den Stufen der Kirche mit mehreren Plakaten und Transparenten ..."
Ulrike Sterblich: Die halbe Stadt, die es nicht mehr gibt. Eine Kindheit ind Berlin(West). - Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verl., 2012. - 368 S. - 9,99 €